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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Binnenwanderungen

selbe zu. Kein Wunder, daß man die B. fast ausschließlich vom Standpunkte des Gegensatzes zwischen Stadt und Land aus betrachtete. Und doch ist dies nicht zutreffend, wie schon ein Blick auf die von der industriellen Entwicklung unberührt gebliebenen Landstädte lehrt, welche sehr häufig sogar abgenommen haben. Quantitativ wenigstens überwiegt der Austausch der Landgemeinden untereinander jenen zwischen Stadt und Land, ebenso ist, ganz im Gegensatz zu der meist verbreiteten Meinung, der Nahverkehr dem Fernverkehr quantitativ nicht unerheblich überlegen.

Die statistische Ermittelung dieser Beziehungen, also der B. überhaupt, steht freilich noch nicht entfernt im Einklang mit der Wichtigkeit der hier in Betracht kommenden Fragen. Zwei Mittel stehen der Statistik zur Feststellung der Wanderbewegungen zur Verfügung. Einmal die Registrierung jeder einzelnen Wanderung, welche aber praktisch nur unter großer Belästigung des Publikums und der Behörden durchzuführen wäre, sodann aber die Thatsachen, welche sich aus der Beantwortung der bei fast allen Volkszählungen gestellten Frage nach dem Geburtsort ergaben. Zwar erfährt man durch Gegenüberstellung von Geburtsort und Aufenthaltsort nur Anfang und Ende, nicht aber die oft sehr häufigen Zwischenstufen der Wanderbewegung; allein durch Kombination mit den übrigen gelegentlich der Volkszählung erhobenen Thatsachen erhält man doch ein wertvolles Material für die Beurteilung der B. überhaupt. Wenn diese Möglichkeit früher nicht ausgenutzt worden ist, so liegt der Grund hiervon in dem schon erwähnten späten Aufkommen des Interesses an den innern Wanderungen. Sieht man von den statist. Leistungen der Einzelstaaten und der hier besonders in Frage kommenden Großstädte ab, so giebt nur die betreffende Bearbeitung der Volkszählung von 1890 für das Deutsche Reich und Österreich ausführliche Aufschlüsse über die B. Im Deutschen Reich hat die Volkszählung von 1890 für die einzelnen Landesteile und Staaten folgende Gewinn- und Verlustrechnung ergeben:

Gebietsteile Aus andern Teilen des Reichs Zugezogene Nach andern Teilen des Reichs Weggezogene Wanderungsgewinn (+) oder Verlust (-) absolut Prozent der Geburtsbevölkerung

Ostpreußen 53331 324351 -271020 -12,2

Westpreußen 141692 243133 -101441 -6,7

Posen 136128 321319 -185191 -9,6

Schlesien 143275 475866 -332591 -7,4

Pommern 118956 282876 -163920 -9,8

Beide Mecklenburg 55601 135716 -80115 -10,6

Schleswig-Holstein u. Lübeck 175418 156223 +19195 +1,5

Hamburg 294174 47674 +246500 +68,7

Brandenburg mit Berlin 997582 285131 +712451 +21,1

Hannover und beide Lippe 246783 296890 -50107 -2,0

Oldenburg 49093 57488 -8395 -2,3

Bremen 70890 20238 +50652 +40,1

Provinz Sachsen, Braunschweig und Anhalt 372105 517591 -145486 -4,3

Königreich Sachsen 348451 155230 +193221 +6,0

Thüringen 134097 204778 -70681 -5,3

Hessen-Nassau und Waldeck 205356 233326 -27970 -1,6

Westfalen 307130 228034 +79096 +3,4

Rheinland 386733 248039 +138694 +3,1

Hessen 101693 107374 -5681 -0,6

Bayrische Pfalz 45496 79412 -33916 -4,5

Elsaß-Lothringen 169774 36494 +133280 +9,3

Baden 120512 106167 +14345 +0,9

Württemberg u. Hohenzollern 60308 147069 -86761 -4,0

Bayern rechts des Rheins 127456 151615 -24159 -0,5

An diesen Schlußergebnißen sind sehr verschiedenartige Strömungen beteiligt, unter welchen aber drei besonders mächtig wirken. Einmal der Zug nach dem Westen, welcher dem Osten und vor allem dem Nordosten Deutschlands einen erheblichen Teil seiner Geburtsbevölkerung entzieht. Weiterhin die centripetale Strömung nach der Stadt, die um so stärker ist, je größer die Stadt ist. Endlich der vielfach unterschätzte Austausch der benachbarten Bezirke. Wie stark dieser ist, geht daraus hervor, daß in Preußen durchschnittlich nur 13 Proz. der Gesamtbevölkerung außerhalb der Provinz, wohl aber 46 Proz. außerhalb der Aufenthaltsgemeinde geboren sind, während in Österreich die betreffenden Zahlen 7 und 36 Proz. betragen. Die überwiegende Mehrzahl der Fortziehenden wendet sich also nach den Nachbarbezirken. Zur Aufklärung der hier zu Tage tretenden Erscheinung trägt eine Unterscheidung der Bevölkerung nach dem Geschlecht wesentlich bei. So sind in Preußen auf je 1000 Männer Frauen geboren: in der Gemeinde 1018, sonst im Kreise 1254, in der Provinz 1064, im Staate 820, außerhalb des Staates 874; in Österreich: in der Gemeinde 1011, sonst im Bezirke 1311, im Lande 1023, im Staate 889, außerhalb des Staates 950.

Die beiden Länder zeigen eine auffällige Übereinstimmung; zunächst ein bedeutendes überwiegen der in den Nachbargemeinden geborenen Frauen, welches man zum großen Teil auf Rechnung der Verheiratung nach den benachbarten Bezirken wird setzen dürfen. Daß unter den sonst im Staate Geborenen die Frauen zurücktreten, rührt von den Wanderungen lediger Männer nach fernern Arbeitsmärkten, von den Garnisonen, Universitäten u. s. w. her.

Eine eigentümliche, schon wiederholt konstatierte Erscheinung ist ferner, daß ganz im Gegensatz zu den Städten in den Landgemeinden die Zugewanderten mit der Größe der Gemeinden nicht zu-, sondern abnehmen. Dies hat besonders eine Untersuchung in dem Großherzogtum Oldenburg dargethan. Es wird sich dies zum Teil auch wieder daraus erklären lassen, daß in den kleinern Gemeinden mehr Heiraten zwischen Personen verschiedener Bezirke vorkommen als in den größern, wo die Auswahl am Orte selbst entsprechend reicher ist.

Über das Verhältnis, in welchem unsere größten Städte durch die innern Wanderungen gewinnen, giebt folgende Übersicht Aufschluß. Es betrug nämlich dieser Gewinn:

Städte Überhaupt Proz. der Geburtsbevölkerung

Berlin 788336 99,7

Hamburg 255309 81,3

München 193987 123,7

Leipzig 139213 89,3

Breslau 145451 76,7

Köln 99767 54,8

Dresden 120107 76,8

Magdeburg 83682 70,6

Frankfurt 95334 112,6

Hannover 72313 79,2

Die stärkste Anziehungskraft übt sonach relativ München aus, während Berlin, absolut genommen, natürlich voransteht. Mehr als ein Viertel seines Gewinns verdankt dieses der umliegenden Provinz Brandenburg und mehr als die Hälfte den östl. Provinzen der preuß. Monarchie, während die westl. Provinzen, das nahe liegende Sachsen ausgenommen, nur schwache Wanderbeziehungen mit der Hauptstadt haben.

Aus dem Gesagten dürfte hervorgehen, daß unsere Kenntnis der B. zunächst noch sehr lückenhaft ist. Da