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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Madagaskar

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Madagaskar (Sprache, Religion, Staatsverfassung, Handel etc.; Geschichte).

jetzt leider häufig europäischer Plunder. Die Prinzen stolzieren in Generalsuniform, die Prinzessinnen in bauschigen Seidenroben, höhere Staatsbeamte tragen den Frack, lange Beinkleider und Lackstiefel. Die Elitetruppe in Antananarivo ist anständig und gleichmäßig uniformiert, in den Provinzen dagegen paradieren die Soldaten in den unglaublichsten Uniformen. Die ursprünglichen Waffen waren Lanzen und Schilde, Bogen und Pfeil, jetzt herrscht das Feuergewehr vor. Die Wohnungen werden aus rotem Thon aufgemauert, das sehr steile, auf starken Pfählen ruhende Giebeldach wird mit Heu oder Binsen gedeckt; eine ummauerte Bodenstelle dient als Herd, der Rauch entweicht durch Thür und Fenster. Die Ansiedelungen werden durch Palissaden oder Mauern eingeschlossen. Hauptnahrung ist der Reis, auch wird viel Fleisch genossen. Das Volk bedient sich der Löffel und Blätter, die Vornehmen haben europäisches Tafelgeschirr. Tabak wird meist nur geschnupft und gekaut. Der Landbau dreht sich in erster Linie um die Reiskultur; aus Zuckerrohr werden Zucker und schlechter Rum bereitet. Die Rinder gehören einer schönen Zeburasse an, das Schaf ist das haarige, fettschwänzige; unter den vielen eingeführten Schweinerassen herrscht die chinesische vor. Die Pferde gedeihen aber gar nicht. Neben der einheimischen Seidenraupe ist die echte eingeführt worden. Man webt sehr dauerhafte Seidenstoffe und Baumwollenzeug, bereitet schöne Zeuge aus den Blattfäden der Raphiapalme und aus Rinde sowie Matten aus Gräsern, Papyrusbast und Binsen. Äußerst geschickt sind die Madegassen in Filigranarbeiten aus Gold und Silber. Das Bambusrohr dient, wie im Indischen Archipel, den allerverschiedensten Zwecken. Die Sprache gehört zur malaiisch-polynesischen Sprachfamilie, sie scheint mit der philippinischen Tagalensprache nähere Verwandtschaft zu haben. Daß sie durchaus keine Verwandtschaft mit afrikanischen Idiomen hat, wie behauptet wird, ist noch nicht erwiesen. Der grammatische Bau ist einfach. Man unterscheidet den Hova- und den Sakalavendialekt. Die Ehe ist eine reine Geschäftssache, und obwohl die Madegassen offiziell sich zum Christentum bekennen (das Volk ist nominell presbyterianisch, 10,000 katholisch), so halten sie doch häufig an der Vielweiberei fest. Keuschheit wird von den Frauen nicht verlangt, doch wird Ehebruch bestraft. Die Sitte der Beschneidung verschwindet seit Einführung des Christentums mehr und mehr. Wie auch sonst in Afrika wird die Blutsverbrüderung, die Falotra, eifrig geübt. Von Charakter sind die Hova leidenschaftlich, empfindlich und rachsüchtig, zeigen sich aber äußerlich höflich und erheucheln lauernd eine kühle Indifferenz. Im Handel sind sie äußerst verschlagen, und an Zuverlässigkeit lassen sie viel zu wünschen übrig. Die frühere Religion war ein Wasserfetischdienst, und hoch im Schwange stand die Wahrsagerei. Jetzt sind sehr viele zum Christentum bekehrt, doch wuchert trotzdem noch der unsinnigste Aberglaube. Das Gerichtsverfahren beruhte auf Gottesurteilen, vornehmlich in dem Trinken des Tangena, eines Gifttrankes, wobei viel Betrug geübt wurde. Das Volk teilt sich in drei ziemlich scharf gesonderte Klassen: Andriana oder Adlige, Hova, den Mittelstand, und Andewo, Sklaven, meist von Kriegsgefangenen und afrikanischen Schwarzen abstammend.

Das Hovareich ist ein durchaus despotisch regierter Staat, in welchem der Herrscher absolute Gewalt über Besitz und Leben aller Unterthanen hat. Der erste Minister, jetzt Gemahl der Königin, ist eine Art Majordomus, seine Macht ist unumschränkt, und die übrigen Minister sowie das in neuester Zeit geschaffene, aus 100 Mitgliedern bestehende Parlament sind durchaus von ihm abhängig. Von den Beamten werden nur die Schullehrer regelrecht besoldet; die übrigen leben sämtlich von Geschenken, Erpressungen und Unterschlagungen. Die Regierung zieht ihre Einkünfte aus Zöllen und Steuern. Das Land ist in zehn Distrikte geteilt, die wiederum in Kreise zerfallen. Dem Aufschwung des Verkehrs ist der Mangel an ordentlichen Straßen außerordentlich hinderlich. Ausfuhrartikel sind: Häute, Hörner, Talg, Wachs, Rinder, Schweine, Schmalz, Salz, Fleisch, Federharz, etwas Kaffee und Vanille, viele Matten und Säcke zum Verpacken von Kaffee, Tabak und Reis. Eingeführt werden: Baumwollgewebe, Kleidungsstücke, Schirme, Wäsche, Glaskorallen, Porzellan, Steingut, Glas, Wein, Rum (von Mauritius), Eisenwaren, Pferde. Den Gesamthandel schätzt man auf 30 Mill. Frank, derselbe könnte aber bei bessern Verkehrsmitteln sehr viel bedeutender sein. Amerikaner, Engländer, Franzosen, auch Deutsche sind die am meisten beteiligten Nationen. Die Hovaregierung erhebt in Waren zahlbare Einfuhrzölle von 10 Proz.; ausgeschlossen sind Pulver und Blei, die nur von der Regierung importiert werden dürfen. Die Ausfuhrzölle betragen 10-35 Proz. Man unterscheidet Wolatsiwaki, d. h. unzerteiltes Geld, ganze Säulen- oder Fünffrankenthaler, und geteiltes Geld, indem man den Thaler in vier Stücke teilt und diese abwägt. Auch Reiskörner bilden Kleingeld. Hauptstadt des Hovareichs ist Antananarivo, das, auf hügeligem Terrain gelegen, sich terrassenförmig erhebt und mit seinen vielen Hütten, größern Giebelhäusern (darunter der königliche Palast) und Kirchen alle andern Orte überragt. Die Einwohnerzahl soll 80,000 betragen. Die Haupthäfen sind Tamatave an der Ostküste mit Befestigungen, einer Reede und 3000 Einw., auch Sitz eines deutschen Konsuls, und Majunga an der Nordwestküste. S. Tafel "Flaggen".

[Geschichte.] M., von den Arabern Dschesira el Komr ("Mondinsel") genannt, wird schon von Marco Polo in der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. unter dem Namen Magastar oder Madugascar erwähnt, wurde aber erst 2. Febr. 1506 von dem Portugiesen Antão Gonsalves wieder aufgefunden und nach dem Heiligen des Entdeckungstags Lorenzinsel oder Isla de São Lourenço genannt. Später richteten die Franzosen ihr Augenmerk auf M.; bereits Heinrich IV. ließ dort das Fort Dauphin errichten, und auf Betreiben des Kardinals Richelieu erklärte König Ludwig XIII. 24. Juni 1642 die Insel für ein Besitztum Frankreichs. Auf diesen vorgeblichen "Rechtstitel" gründet Frankreich noch gegenwärtig seine Ansprüche auf die Insel. Es wurden darauf von den Franzosen einige Häfen an der Küste okkupiert, zeitweilig wieder aufgegeben und dann gelegentlich abermals in Besitz genommen. Die Eindringlinge erbitterten aber durch ihre Ausschweifungen die Eingebornen in dem Grade, daß dieselben dreimal die Kolonisten niedermetzelten, 1652 zu Manghisia, 1670 auf dem Fort Dauphin und 1754 auf der Insel Ste.-Marie. Eine Zeitlang war ein Überrest der gefürchteten Flibustier, die an den Küsten Seeraub trieben und die Sklaverei einführten, das einzige europäische Element auf M. Die französische Regierung ließ zwar 1746 und 1774 durch den Grafen Benjowski (s. d.) einige Versuche machen, die Insel zu kolonisieren; da diese aber mißlangen, so begnügte sie sich damit, mehrere Faktoreien anzulegen, um die benachbarte Insel Bourbon mit den nötigen